273, Teil I: Gespenst vom Comer See
Comer See/ Italien, Mai 2024.
Ich habe einen Geist geküßt. – Habe ich das?
Im Streit aufgebrochen, ohne zu ahnen, daß nach der Rückkehr weiterer Zwist von anderer Seite mich erwarten würde, sah ich die Schönheit der Gegend, von der alle anderen schwärmten noch vom Busfenster aus, zunächst nicht. Die erste innere Beteiligung bescherte mir der honiggelbe, glänzende Parkettboden des schlichten, beinahe klösterlich anmutenden Zimmers unseres Hotels, von außen stuckierter Palazzo, innen familienbetriebene Vernunft puristischer Art. Sauber war es und hell und geräumig, genau, wirklich exakt, wessen ich gerade bedurfte. Ich flitzte zur Rezeption, mir eines der großen, flauschigen, weißen Poolhandtücher zu leihen, nein, nicht für ein eiskaltes Bad draußen, sondern als Unterlage meiner Yogaeinheit. Das war der Moment, in welchem ich angekommen war: am Comer See, aber vor allem auch bei und in mir selbst.
Ich habe es satt, mir einreden zu lassen, welch schlechter Mensch ich bin. Schwierig bestimmt, da mit Rückrat und nicht einzusortieren und vielleicht befremdlich und inzwischen ein angriffslustiger Löwe, kämpferisch, wild, rau geworden. Jemand, der den Finger auf die Wunde legt, weil man das tun muß, wenn man Wunden versorgen und heilen lassen möchte. Die Wunde an sich bin ich jedoch nicht, die produzieren andere durch Wegschauen und Verleugnen und Unzuverlässigkeit und Bequemlichkeit; und dann fragen sie sich bass erstaunt, wo plötzlich der Eiter herkomme oder die Blutvergiftung. Ich habe es auch satt, meine schönen Dinge im Leben – etwa ein mehrtägiger Ausflug an den Comer See – infiltrieren zu lassen vom Müll anderer. Das Frotteehandtuch am spiegelnden, warmhölzernen Parkett und mich darauf gedehnt, da war ich zum ersten Mal seit langem einfach einmal wieder nur: gut.
Es regnete arg an jenem Tag. Die Villa – eine untertriebene Bezeichnung für einen solch delikaten, riesigen Prachtbau – befand sich in absoluter Alleinlage an der leicht felsigen Spitze einer bewaldeten Landzunge. Abgesehen vom Anlegesteg, von einem kleinen Park, dem Privatforst und dem mehrteiligen, zartgelb getünchten verspielten Wohnbau aus dem 18. Jarhundert gab es dort nichts weiter, nur tief unten das beschaulich klatschende blaue Wasser und als Nachbarn eine Kolonie brütender, quäkender Graureiher.
Ein Loggien ähnlicher, separater Gebäudekomplex bestand aus dem Geografie- und Studiersaal sowie aus der Bibliothek, eingerichtet im gutbürgerlichen englischen Stil. Da merkte ich auf. Ein Mensch, der der Lektüre und der Recherche derart viel Raum – wörtlich – zuspricht, wer mochte das sein? Gewesen sein? Ich denke, da winkte er mir bereits zu, der Geist, aber ich hatte ihn nicht richtig zur Kenntnis genommen. Wir wurden durch die anderen Teile des Anwesens geführt, eines Anwesens, das von einer Stiftung verwaltet wurde und nur noch als Museum diente und unmerklich seufzend Heerscharen von Leuten wie mich erduldete, Touristen.
Auf dem riesigen Schreibtisch des Büros ruhte einem Grabstein aus Karton und Plastik gleich die angebrochene, letzte Zigarettenschachtel des ehemaligen Eigentümers und Bewohners der Villa del Balbianello, ruhte dort seit 1988. Sie war somit fast so alt wie ich, wieder kitzelte mich ein Gefühl der Berührtheit, blies mir jemand eine Gänsehaut den Nacken hinauf.
Sproß einer Supermarktdynastie, arbeit- und strebsam, schwerreich, früh und plötzlich an einem Herzinfarkt verstorben, angeblich verschroben, das interessierte mich nicht.
Ich sah das gediegene Mobiliar, das von Geschmack und Understatement zeugte. Ich sah in Vitrinen Sammlungen, wie ich sie in südamerikanischen Nationalmuseen und im British Museum und in ethnografischen Abteilungen auf der ganzen Welt besucht hatte, fein gepflegte, perfekt kuratierte Stücke, die mir still und doch beredt entgegenblickten, präkolumbinische Figuren, Asiatika, Inuitschnitzereien aus Walroßbein und Walfischknochen. All diese Objekte waren von höchster Güte, liebevoll platziert, hatten genug Luft zur Entfaltung, waren von Würde umgeben. Diese Vitrinen waren nicht unnahbar oder von rein archivarischer Natur, sondern in die jeweiligen Wohnlandschaften, die von Behaglichkeit und Gastfreundschaft kündeten, integriert: Speisesaal, Salon, Gästeschlafzimmer…
Ich entdeckte Exponate, wie sie mir nie zuvor untergekommen waren, in zwanzig Jahren der kunst- und kulturhistorischen Beschäftigung nicht, und die von anderen nicht einmal wahrgenommen wurden, weil sie so unspektakulär und beiläufig anmuteten, etwa eine keramische Karaffe, die perfekt von einer ledernen Haut umschlossen war, ein Meisterstück handwerklicher Präzision, absolut verblüffend, absolut – ja, wie ich sagte: Understatement, obwohl unfaßbar raffiniert. Ich verliebte mich vom Feck weg in einen seit Jahrzehnten toten Mann, quasi nachträglich noch in diesen Menschen, der nicht liiert gewesen war und auf dutzenden gefährlichen Expeditionen unterwegs. Das also auch noch! Ein Abenteurer, Pionier. Grönland, Patagonien, Pakistan, Westafrika, Nepal u.s.w., oft mehrmals im Jahr aufbrechend, etliche Erstbesteigungen meisternd. Der Papst bat ihn um Audienz, der im portugiesischen Exil lebende König Umberto II von Savoyen verlieh ihm einen Ehrentitel. Die Fotografien aus seiner Hand zeigen keine Selfies, sie stellen respektvolle Portraits helfender Crewmitglieder dar, ein kochender Sherpa hat sich mir besonders eingeprägt, das Bild so intim und wohlgesonnen, herzergreifend. Wie ich in den leisen Räumen stand, prächtig und reserviert zugleich, einladend und distinguiert, Räume eines trotz aller Kontakte – allein eine der Nordpolexpeditionen hatte aus zweitausend (!) Teilnehmern bestanden – für sich gebliebenen Menschen, wie ich dort stand und in der Kunst badete, im Flair intellektueller Wertschätzung, da rüttelte es an meinen inneren Fenstern, klopfte sie an, eine Geschichte, die erzählt werden wollte – oder aber ein Geist, ein echtes Gespenst, Guido Monzino selbst. Monzino, der hinter Gittern in der Tiefe eines kleinen Steinbaus auf der Landzunge begraben liegt, losgelöst von anderen, nur sich zur Gesellschaft und das klatschende Wasser und die quäkenden Graureiher. Ich betete ihm unauffällig ein rasches Vater Unser.
Wahrscheinlich – hätten wir uns je getroffen – hätten wir uns gestritten und entzweit, weil ich mich offenbar mit jedem streite und entzweie, aber in Gegenwart nur seines Geistes, seines Geistkörpers, der aus jedem Gegenstand und jedem Foto, jeder Pflanze des Parks, jedem Stein des Grundes sprach zu mir, fühlte ich mich verstanden und geborgen und angezogen. Vielleicht können Partikel doch Zeit und Raum überwinden; vielleicht war es Monzino, den ich in mir rascheln hörte. Er sagte mir, ich sei nicht verkehrt. Er sagte mir auch, das Leben auf einer Insel sei herrlich, wenn man regelmäßig aufbreche in die Welt; keine dörfliche, keine deutsche, keine mediale Welt, sondern in das Andere, in die große Freiheit da draußen, die es sehr wohl noch gebe, in das Facettenreiche und Komplexe, Hehre, Unbekannte, und das Universum, das dürfe man auch nicht vergessen, aber mit der Größe des Universums täten sich die Lebenden ohnehin ziemlich schwer.
Ich denke, Monzino ist noch dort in der Villa del Balbianello, und zugleich ist er überall. Ich bekam wieder Lust auf Grönland und Ruwenzori… Bestimmt war Monzino ein schwieriger Mensch; aber Esprit hatte er, Wagemut, Intelligenz und Geschmack. Wir sollten uns mehr schwierige Menschen wünschen.
Ich habe keinen Geist geküßt. Der Geist hat mich geküßt.