271 Autogramm gefällig…?

271 Autogramm gefällig…?

München, April 2024.

 

Das Schöne an Saudade ist, daß es im Deutschen keine exakte Umschreibung dafür gibt. Man hat ein Gespür, ein Wissen darum – oder nicht. Saudade ist ein Lebensgefühl, es zeugt von Leidenschaft, Pathos, Romantik und dieser bittersüßen Zerrissenheit, zuweilen schmerzhaft bohrend; Saudade ist Teil des Fado, der aber auch etwas Keckes, Kesses aufweisen kann, frech, frivol, frisch sein. Hier ende ich mit einer Erläuterung, die anmaßend geraten dürfte, ginge ich tiefer: ich bin weder Portugiesin, noch Sängerin oder schwärmerisch Umliebte.

Vermutlich habe ich ein sonderbares Bild abgegeben, wie ich mit einem Bein auf der unteren Strebe aufgestützt über der Metallbrüstung lehnte, die das zum Isarkanal abfallende Ufer abgrenzte, von Hummeln umsummte Efeuranken am Boden musternd, das junge Grün der Buchen und Ahornbäume, das Schlammjadene des träge fließenden Gewässers. Ich war in cremefarbene Seide zu beigen Jeans gekleidet, am Ohr Tiefseekoralle (selbstredend vintage), in der einen Hand das giftige Orange eines Aperol Spritz. Ich fühlte mich deplatziert, gehörte weder zu den Flaneuren, Radlern, Joggern des außergewöhnlich milden Frühlingssonntages, noch zu der Menge früher erschienener Konzertbesucher, die an den Bänken und Tischen eines an der Isarphilharmonie gelegenen Lokals saßen, schwatzend, lachend. Ich vermißte München. Ich vermißte die Spaziergänge durch den Englischen Garten, den spontanen Besuch eines Eiscafés, den heiteren Trubel. Ich vermißte all die kleinen Entdeckungen, die einen – oder mich – entzücken machen: die dichte Rankenhecke aus blassrosa Clematis, die an die Bauzäune des Großmarktes gepflanzt worden war und gerade blühte hinter den stinkenden Abfallcontainern. Saudade. Wahrscheinlich gibt es kaum einen Menschen meines Alters, der so wenig Kontakt zu anderen hat, und sei es bloß als Teil einer schlendernden Traube. Mein Alltag besteht aus Putzen, Aufräumen, Schreibtischarbeit, Tierfutter bereiten, Hühner misten, Yoga, im Garten werkeln – sämtlich Tätigkeiten, die zu Hause geschehen, ohne Gesellschaft. Zwei Mal die Woche fahre ich in Geschäfte zum Lebensmitteleinkauf, mein einziger Arm nach draußen. Gassi gehe ich zwar, dies jedoch in Wald und Flur, wo man niemanden trifft, und selten an Seen, wo man auf der Hut sein muß, daß der eigene Hund keine Rauferei anzettelt. Ich stand also in der heißen Sonne, umgeben von Leuten, die gar nicht wußten, wie schön ich es fand, daß sie da waren, spielende Kinder, Sportler, müßige Senioren, einfach nur da waren und eine Atmosphäre gemütlichen Flairs schufen, indem sie diesen herrlichen und freien Tag genossen. Ich freute mich, daß jemand die Clematis gesetzt hatte hinterm Obst- und Gemüsegroßmarkt, den ich passiere, wenn ich vom Parkhaus zur Isarphilharmonie laufe. Ich freute mich über die vom Schmelzen weich geschliffenen Kanten der Eiswürfel in meinem geleerten Glas, über die Gelegenheit, schickeres Gewand anlegen zu können, freute mich auf das Konzert in Kürze.

Ich suchte meinen Platz und täuschte mich in der Reihe, gewiß meiner Zahlenschwäche wegen. Ich wunderte mich über die unwirsche Bereitschaft der bereits Sitzenden – es war noch eine Viertelstunde bis Beginn -, die deutlich ungehaltenen Reaktionen. Ein älterer Herr, keineswegs gebrechlich, weigerte sich zunächst gar, sich zu erheben, obwohl ich ihn mehrfach darum bat. Erst mitten in der Reihe begriff ich meinen Irrtum: ich hätte außen herum gehen und mich von der anderen Seite her nähern müssen, obwohl ich den richtigen Aufgang in den Saal gewählt hatte, Tür A. Ich lächelte die erbosten Gesichter an. “Verzeihung, mir ist ein Mißgeschick unterlaufen. Würden Sie mich bitte vorbei lassen?” Ich versuchte, all meinen beschwichtigenden Charme in Wort und Stimme zu legen. Es dauerte ewig, bis ich mich endlich aus der Reihe geschlängelt hatte, Männer wie Frauen gifteten mich geringschätzig an. Irgendwann war ich am korrekten Platz angelangt, mir klopfte das Herz. Ich war weniger peinlich berührt meines Fehlers, des Mißverständnisses wegen, sondern war schockiert über die mir entgegengeschlagene Feindseligkeit, mehr Haß als Unfreundlichkeit. Ich saß in der Isarphilharmonie, kultureller Hort, Sinnbild des intellektuellen Genusses, Sammelstelle an den Künsten Interessierter, saß da und hätte weinen mögen, weil ich die Welt nicht mehr verstand, jene Welt, von der jeder ständig lamentierte, sie gerate aus den Fugen, und vielleicht war dem so. Alles wird gut, war auf der Rückscheibe eines Autos gestanden, in großen weiß folierten Lettern, und ich hatte mich auf der Hinfahrt amüsiert über dieses “Alles wird gut”. Jetzt klammerte ich mich an den Slogan einer fremden anonymen Person, eine Botschaft, die plötzlich heil tat.

Mariza sang sich die Seele aus dem Leib.

Ein Erlebnis. Ein Ereignis, diese Frau live zu hören, im Fado zu baden, Handgesten, Stimmklaviatur, Textinbrunst, Hüftschwung, die Show perfekt einstudiert, beeindruckend vorgetragen, seelenvoll. Frauenpower, Können auf höchstem Niveau, ein Fest für die Sinne, für Auge, Ohr, das ganze Sein. Es hielt mich kaum auf meinem Klappsitz, ich wollte mitwogen, die Arme heben, wippen, mit den Füßen am Boden tanzen; um meine Brust lag eine Klammer – es war der Konsenz der westlichen Welt, verknöchert, starr, (un)ziemlich. Das tut man nicht. Vor Euphorie sprühen, lebendig sein, rege. Ich wünschte, sie würden sprengen, die Ketten um meinen Herzraum, wie jene der originalen Version des Froschkönigs, als der Diener Befreiung erfährt. Das Publikum erweichte sich erst beim frenetischen Abschlußapplaus, eine aufgeheizte, elektrisierte Menge. Ich fragte mich, ob jene Leute der Reihe, in der ich mich zuvor getäuscht hatte, auch mitgerissen in die Hände klatschten, und falls ja, wie es ihnen gelungen war, innerhalb zweier Stunden ihr Herz zurückzufinden.

Es staute sich, einer Blase gleich wölbten sich die Wartenden vor den Ausgängen. Eine aparte, dezent gekleidete Frau blieb weiterhin sitzen. Ich erkannte in ihr die Betreiberin der Veranstaltungsreihe Bell´Arte, die auch Mariza nach München geholt hat. Ich dachte nicht zu lange nach, wohl der zweite meiner Fehler dieses Abends, sprach sie aus spontanem Impuls heraus an, weil ich eh nicht vorwärtskam.

“Ich möchte mich kurz einmal bei Ihnen bedanken für das Programm.” sagte ich, mich leicht hinunterbeugend, um nicht zu sehr von oben herab – wörtlich – zu wirken.

“Wie bitte?” sagte sie, die Miene eine Mischung aus Verständnis- und Ausdruckslosigkeit, was mich reichlich verunsicherte.

“Sind Sie denn nicht Frau Dr. S.?” hakte ich nach, mein Selbstvertrauen zum Mäuschen, ach was!, zur Grille schrumpfend.

“Doch!” sagte sie, sehr nachdrücklich, weshalb ich einen weiteren Vorstoß wagte.

“Ja dann! Erstellen Sie ja dieses vielfältige Konzertprogramm.”

“Oh, viel Arbeit ist das. Wir planen zwei Jahre im voraus.” Ihr Blick wandert über mein Gesicht, unstet, mir wird zunehmend unbehaglich zumute. Bin ich zu stark geschminkt? Oder sind es die auffälligen Ohrringe? Aber darf es abends zu einem gehobenen Konzert nicht auch einmal etwas mehr sein an Make-Up und Accessoires? Oder – ich habe bei einem besonders bewegenden Lied ein paar Tränchen verdrückt – bin ich derangiert? Hätte ich sie nur nicht angesprochen! Meine Worte dünken mir schon wieder wie Kröten, Pechmarie´sche Kröten, die einem aus dem Mund plumpsen (vgl. Beitrag 177)… Aber jetzt stecke ich mitten drin, muß ich es zu Ende bringen! Ich hole tief Luft.

“Viel Arbeit, gewiß! Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen, die beeindruckenden Künstler, die unterschiedlichen Häuser, grandios, vielen Dank.”

Sie lächelt und bedankt sich ihrerseits flüchtig, eher abrupt, nirgends ein Willkommen, eine Einladung, weitere Sätze zu wechseln. Ich finde sie trotzdem sympathisch, wir schwingen nur überhaupt nicht auf einer Welle jetzt im Moment, für sie ist es ja Arbeit und für mich Freizeitvergnügen, wer weiß, was ihr im Kopf herumschwirrt. Ganz rasch verabschiede ich mich mit einem Wiederschauen, wie man es sagt in Bayern, drehe ab und sehe zu, daß ich Land gewinne zwischen uns. Puh! Keine Soirée der erfolgreichen sozialen Interaktionen!

Im Studienfach der Ethnologie lasen wir im Rahmen eines Seminars Huizingas Buch „Homo Ludens“ über das Wesen des menschlichen (oder auch tierischen) Spiels. Ein Kennzeichen des kindlichen Spiels ist die Ernsthaftigkeit: auch wenn man weiß, es ist bloß Schein, auch wenn man weiß, man selbst ist nicht die Mutter und die Puppe kein echter Mensch, bewahrt man sich die standhafte Überzeugung, es sei dem sehr wohl so, die Fünfjährige wird zur Mama, das Püppchen zum Baby. Zugleich bleibt sich der Spielende jederzeit des Spiels bewußt. An Huizenga dachte ich, wie ich mich abwandte von meinem verpatzen Plausch. Immer wenn ich ein Verhalten festzustellen meine, das mich irritiert: Leute starren mir ins Gesicht, ohne daß ich enträtseln kann, warum sie dies tun, so eindringlich, manchmal aufdringlich tun, ergreifen mich unkomfortable Gefühle. Nun kann ich mir entweder sagen, man stiert mich an eines – irgendeines! – Makels wegen; oder aber – und das ist mein Spiel seit ein paar Jahren, ich tue vor mir selbst so, als sei ich eine allgemein, oder zumindest in manchen Kreisen, wohl bekannte, angesehene Autorin bzw. Bloggerin, die wiedererkannt worden ist. Das hat nichts mit Arroganz oder narzisstischer Erhöhung zu tun; es erklärt mir einfach das penetrante Stieren einiger Personen, auch etwa vom Nachbartisch im Café aus, ohne daß ich mich schlecht fühlen muß – wer würde schon gerne Aufmerksamkeit erregen etwa einer Häßlichkeit, unpassender Outfits, verrutschter Make Ups wegen? Eben. Also sagte ich mir – wobei dies tatsächlich von erheblicher Eitelkeit und Überschätzung zeugte -, die geachtete Bell´Arte-Unternehmerin habe mich erkannt. Oh! Beinahe wäre ich an Ort und Stelle in heiteres Lachen ausgebrochen!

Auf dem Weg zurück von der Isarphilharmonie zum Parkhaus stand mir Mariza in ihrem hautengen Paillettenkleid, mit ihren grazilen wie spannungsgeladenen Gesten vor Augen, hörte ich sie singen, hörte ihre tiefe, warme, volltönende Stimme voller Biß und Sanftmut, voller Aufbegehren, Spott und Energie. Zeitweise ohne Mikrofon hatte sie in den ausverkauften, zweitausend Zuschauer fassenden Saal hinausgesungen, und man hatte sie bis zu den hintersten Plätzen klar vernommen (die Akustik der Isarphilharmonie stammt von einem Japaner…). Der Weg zurück führt die stark frequentierte Schäftlarnstraße entlang; die Nachtluft war sommerlau (an einem Frühlingstag), meine Schuhe klappten auf dem Gehsteig, schrapp klapp schrapp klapp, der bestempelt war mit bezaubernden Schattenrissen sprießenden Lindenlaubes und feinen Astgewirrs. Ich passierte die am Boden liegende Schwinge einer Taube: ein Knochenbogen, drei prächtige Federn, passierte die stummen Clematisreben, die den Gestank vergorener Abfälle des Großmarktgeländes kaschierten. Ampeln sprangen auf Rot, auf Grün. Das Heizkraftwerk kuckte nieder zu mir, lautlos Wasserdampf ausstoßend, wie ein Wal mutete es an, sanft, riesig.

Ich war ausgegangen, unter die Leute gegangen. Hatte einen Arm ausgestreckt nach dem “Da draußen”, zaghaft winkend. Die Leute waren nicht unter mich gegangen. Nur die Frau des Platzes neben mir hatte sich lächelnd verabschiedet nach dem Konzert. Von der großen, großartigen Mariza fuhr ich heim ins Dorf. Schrapp klapp schrapp klapp. Heiterer Frohsinn am Isarkanal, schmelzende Eiswürfel, orange zerfließend im letzten Rest Aperols, ein Faux Pas (oder zwei), Fado in Reinkultur, mein Huizinga Spiel, die Taubenschwinge in der Abendmilde, wuchernde bleich-strahlende Clematis. Schrapp klapp schrapp klapp.

 

Saudade.

Na ja, zumindest bayerische Saudade.

 

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