265 Ein schräger Vogel im Januar

265 Ein schräger Vogel im Januar

Brüssel, Januar 2024.

 

Es mochte am Garden Smash (Feigenlikör mit einer Basilikuminfusion, Zitronensaft und Gin) gelegen haben, daß ich ihn so unverhohlen anstarrte von meinem Tisch aus, wo die Tellerchen voll angerichteter Speisen wie Paprikahumus, Falaffel, Haloumi, Tahin und Rosmarinbrot appetitlich lockten und ein Kerzenlicht warm aber einsam vor sich hinflackerte. So unverhohlen, daß er es bemerkte und es als Flirt interpretierte, obwohl man ihm längst angemerkt hatte, daß sein Herz für Frauen nicht sonderlich schlug. Immer wieder studierte ich ihn, die langen kastanienbraunen Locken, die er mit einem Reif zurückgeschlagen trug, den einzelnen, baumelnden, langen Silberohrring in Form einer Indianerfeder, die Gesichtszüge: am Empfang des nahöstlichen Lokals saß meine Novellenfigur, mein Protagonist, ein Wesen meiner Fantasie, das ich erschaffen hatte, nur der schmeichlende Bart wich ab; sogar die Stimme entsprach meiner kürzlich ersonnenen Beschreibung, das Gewand.

Manchmal erlebe ich Alltäglichkeiten, winzigste Zufälle, als äußerst bizarr; ewig hatte ich mich schon zu erinnern versucht, wie das bezaubernde Bergdörfchen in Guatemala damals geheißen hatte, als ich an einer profanen Brüsseler Supermarktkasse gemahlenen Bio-Kaffee ausgestellt sah, Herkunft: Quetzaltenango. – Zwei von Bambusholz eingefaßte, viktorianische gläserne Prunkschaukästen mit Biotoparrangement und Taxidermi aus Kolibris sowie vier weiteren, größeren Vögeln wurden auf der Kunstmesse angeboten, derentwegen ich nach Belgien gekommen war, und bei diesen vier Vögeln handelte es sich – nein, wirklich! – um herrlich metallen grün schimmernde Quetzale, bis heute das Nationaltier Guatemalas. Den Kaffee erlaubte mir meine Reisekasse, bei den 65.000 für die seltenen Schaukästen mußte ich passen.

Der Mann am Empfangstresen konnte also nicht ahnen, daß ich, ihn müßig betrachtend, an Sabro dachte, meinen tragischen Novellenhelden, an ein abgelegenes Dorf im Nebelwald nahe des Äquators und an ausgestopfte Kreaturen. Eine Frau, die alleine in Kerzenschein zu Abend ißt und einen Mann fixiert, die ist natürlich auf einen Flirt aus – dabei würde ihn eher der feine Herr im Leinenblazer auf dem Barhocker gegenüber interessieren…

 

Es war ein Weilchen her, da hatte jemand gefragt: kommst du mit in die Antarktis, drei Wochen Fotografieren in der Stille? Oh! Und ich sah in die bernsteinernen, grün gesprenkelten Kulleraugen meines Hundes, wußte um die Arbeit mit dem Hühnervieh und die lästigen Pflichten daheim und im Büro und antwortete wahrheitsgemäß, daß ich wohl nie wieder mehr als zwei Wochen am Stück unterwegs sein könne, und es war gut; aber von der Idee der arktischen Stille vermochte ich mich nicht zu lösen, sie durchgeisterte mich wie das Ticken einer Uhr, das sich im leeren Januar – eigentlich ein Monat des Neubeginns, des Umbruchs – ungeheuer laut ausnahm. Da trudelte eine Papierkarte ein, ein Hinweis auf die Brafa, eine gehobene Kunstmesse. Ich erlaubte mir zwei Nächte, um meinem Dorfkoller zu entfliehen, der im Grunde nur eine weitgreifendere Ablehnung zeitgenössischer Tendenzen kaschiert.

Die Gondel des Riesenrades blinkte orange-stählern auf im Licht der sinkenden Sonne, die eine zarte Decke über die auseinandergefaltete Stadt legte, mir eine leise, kindliche Freude in die Brust zaubernd. – Die gigantischen Kugeln des Atomiums staken über meinem Kopf, megaloman und irrwitzig im Kontrast zum Kleinsten, wofür es denn nun stand. Welches Atom es sei, wurde später bei mir nachgehakt. Über das faszinierend große Rund hinweg, die reflektierende Oberfläche, die Schönheit des Designs hatte ich nicht das Mü einer Sekunde darauf verwandt, mir darüber das Hirn zu zermatern. Ich hatte in der Schule nur ein Jahr lang Chemie gehabt und dieses Fach mit einer Vier bestanden (eigentlich hätte es eine Sechs sein müssen…). – Ob ich noch einen Champagner wünschte oder von den Hähnchenspießen? Common?, végétarienne, mais pardon! Und auf dem nächsten Tablett servierte der Kellner mir Himbeertörtchen, pour Madame la Végétarienne, er hatte mich eigens im dichten Gewühl der vielen Messebesucher ausfindig gemacht. – Eine fachkundige, private vierstündige Walking Tour zum Thema Jugendstil- und Art Déco-Architektur inklusive der Besichtigung des Wohnhauses Viktor Hortas. – Trödel und Kitsch und Flohmarktware im Souterrain eines bröckelnden Gebäudes, zufällig erschlendert. – Vermummte Obdachlose in den Ecken irgendwelcher U-Bahnaufgänge. – Das Arrangement aus Rosen, Lilien, Flamingoblume in einer Kirche sowie die ausladende Krippe aus Pappmarché in einer anderen. – Magrittes faszinierende Gemälde, umfangreich aufbereitet im frisch renovierten Museum. – Der pompöse, von allen Seiten mit Prunkfassaden gerahmte Platz, theatralisch illuminiert, Grüngelb vor Schwarz, hoch aufragend die Gebäudereihen, einen fast niederringend mit all den Säulenverblendungen, Voluten, Skulpturen, Gesimsen, Vergoldungen: kurz, ganz kurz bloß, klatscht das Wasser auf die ausgewaschenen Marmorstufen eines patinierten venezianischen Palazzos, schon bin ich wieder gegenwärtig im dunkelnden Brüssel.

 

Vor einiger Zeit hatte ich mir einmal in einer Flughafenwartehalle freihändig die Lippen nachgezogen, ohne einen Spiegel zu verwenden, was zu meinem Erstaunen auf verblüffte Resonanz und heurekaartiges Lob stieß. Und ich hatte bei mir gedacht: Tja, irgendetwas muß man ja können… Das fiel mir plötzlich wieder ein während einer Plauderei am Messestand jenes Händlers grob meines Jahrgangs, der mir die Einladungskarte zur Brafa gesandt hatte.

Daß er sein Geschäft mit zwanzig Jahren eröffnet habe, erzählte er; ich erwiderte, daß ich Anfang zwanzig mit dem Studium der Kunstgeschichte beschäftigt gewesen sei; er lachte und sagte, Anfang zwanzig habe er noch gar nicht begonnen mit seinem Studium der Kunstgeschichte; ich hielt dagegen, daß ich das ziemlich mutig fände; woraufhin er meinte, im Nachhinein hielte er die Unterschrift für den Zehnjahresmietvertrag des Ladens auch für gewagt, aber es sei ja alles glatt gegangen zum Glück. Und da besah ich mir diesen von seinen Kunstobjekten umgebenen, zufriedenen Menschen, der eben von den selbst kuratierten Künstlern, Materialien und Techniken aufrichtig schwärmte, besah ihn mir, wie er inmitten seines feinen Standes strahlte und dachte mir, daß mein wagemutigstes Unterfangen, meine erlernte Fähigkeit darin bestehe, mir ohne hinzukucken die Lippen schminken zu können, und schluckte über die Erbärmlichkeit dieses Vergleichs. Gewiß wäre es anders, wenn ich mit dem Schreiben Geld generierte; tue ich nicht. So tastete ich ein letztes Mal mit den Fingerkuppen über die seidige Textur des edelmetallenen, aufwendig getriebenen japanischen Gefäßes, das sich anfühlte wie ein frisches Blütenblatt, bedankte mich artig für das Gespräch und zog weiter, den Blick geheftet auf die Messedekoration: bauchige, von der Decke baumelnde Wattewolken, magritteeske Figuren, echte, imposante Palmen in Kübeln, gepflanzte Gräser und Sukkulenten.

Zwei belgische Nächte. Nicht ganz die Antarktis, doch zumindest ein Stück Erinnerung inmitten einer tickenden Januarleere.

 

 

Eine Antwort

  1. kunstfotografie sagt:

    Hallo Frank,
    ich habe deinen Kommentar zwischen all den Fake-Kommentaren übersehen und gelöscht – erst ein unregelmäßiger Blick ins Mailfach der Homepage ließ mich deine kurze Nachricht bemerken. Sorry dafür! Und noch viel eher: peinlich, daß ich die Antarktis mit der Arktis verwechselt habe… Mittlerweile ausgebessert im Blogbeitrag!
    Du sagst: „Es war die Antarktis und es war wunderschön.“
    Und eigentlich zeigst du damit, daß man all die vielen Worte, Sätze, Passagen gar nicht braucht, wenn man etwas ausdrücken will.

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