237, Teil III: Phönix

237, Teil III: Phönix

Sizilien/Stromboli Februar/März 2023.

 

Frau L. bin ich nicht, titelte ich einen meiner ersten Beiträge (vgl. 11), verfaßt zu einer Zeit, in der Idole mir das wichtigste waren, völlig Fremde, die einen möglichst großen Kontrast bildeten zu mir, meist Männer, gelegentlich eine Frau, Extremsportler, Wissenschaftler, Abenteurer, Künstler, unabhängige Nomaden, mutige, unerschrockene Menschen, ambitioniert, fleißig, erfolgreich, deren Bücher ich verschlang, Fotografien ich fasziniert betrachtete. Sie zeigten mir, was ich nicht geworden war, nie werden würde, berichteten von den Dingen der weiten Welt, die keinesfalls in meinen winzigen Alltag passen würden, in meinen selbstbeschränkten Handlungsspielraum. Ich ging gelegentlich so weit, Götzendienst mit Liebe zu verwechseln und entschuldige mich an dieser Stelle zum x-ten Mal dafür, es ist mir wirklich peinlich, R. M. L., dich so lange belästigt zu haben im Glauben, du seist personifizierte Perfektion, heißt das schon Stalken?, suchte nach Vorbildern, Apnoetauchern, Eisschwimmern, stellvertretenden Besten, ohne dabei das Menschliche dahinter zu erkennen. Frau L. bin ich nicht, das kann ich nun mit absoluter Gewißheit bestätigen, es nicht nur als hingeworfenes rhethorisches Stilmittel verwendend. Ich sage es lächelnd, und ich darf sie nun, die einstige Kultfigur, darf sie Ulla nennen. Mein eigenes Extrem, das liegt ganz tief in meinem Herzen; viele würden sich nicht dorthin wagen, aber ich nehme es auf damit, steige hinab, denn nach der Dunkelheit folgt das Flüssigheiße eines Erdkerns, orangerotgelbe Unermeßlichkeit.

Durch witternde Straßen vorbei an einem auf den Boden gesprühten Graffittiherzen und einer überreich blühenden, stattlichen, wunderschön reinen Kamelie streifte ich, als ein pfeffernder Knall die mittägliche Stille zerriß, klar wie ein Schuß; es würde später heißen, beim Anlanden der Fähre in wogender See sei eines der Taue gerissen. Ich krallte mich in den babyblauen Holzstuhl, eingepfercht zwischen Wand, Tisch, Sitznachbarn, unmittelbar (man muß sagen: unentrinnbar) vor mir der Laptop, auf welchem eine Mischung aus Vortrag und Fototheorie abgespielt wurde, krallte mich in den Stuhl, bis mir übel wurde, denn genau wie das Schiffstau wollte die Spannung mich auseinanderfleddern, und die Panik schwappte auf, so wie es die Woge kurz zuvor getan hatte, als ich trotzig bei Schlechtwetter ins kalte Wasser gestiegen war, die zermatschten Quallen im Lavakies am Strand ignorierend: welch Sinnbild, eben noch schwebend, leicht, vital und im nächsten Moment zerschellt zu glibberigen Rotz. Ich hockte auf dem viel zu niedrigen Stuhl mit einer Pulsfrequenz wie während der 4000er-Besteigung in Nepal, die Kehle abgedrückt, vor mir die Diashow einer seltenen Mumifizierungspraxis auf Vanuatu, die nichts gemein hatte mit meinen bisherigen Mumien”bekanntschaften”, meiner Mumien”begeisterung” (vgl. Beitrag 183), ahnend, daß ein Trost hätte daraus sprechen sollen, unvergessen, noch unter uns, mit uns, aber das einzige, das im Raum anwesend war, waren die Monsterkreaturen der Vergangenheit, dieser elendigen, vermaledeiten, nie enden wollenden Vergangenheit, die immerzu weh tut, und daß ich es schaffte, nicht loszuheulen, verriet es mir: in Sachen emotionaler Disziplin und Beherrschung kann ich mittlerweile längst mithalten mit jenen, die ich für ihre Stärke, Energie, Furchtlosigkeit grenzenlos bewundert hatte.

 

I´m changing I´m changing my dear/ Getting stranger and stranger I fear/ Let´s get out of here let´s get out of here/ Learning learning learning how to disappear

 

Der grobkörnige, dunkle Sand piekste unter den Sohlen, als ich Schritt für Schritt ins Meer stieg. Die Wellen klatschten mir gegen den Bauch, ich konnte den Schaum fühlen, ehe ich nach vorne sprang in den Schwimmzug hinein. Ich wurde angehoben und hinabgesenkt von einer Kühle, die unglaublich beruhigend war. Als ich mich umwandte, schaukelnd im Ozean, im geliebten Blau, das hier noch brav und gezügelt war, bot sich mir die Küste dar: schwarze amorphe Felsenbänder, mediterrane weiß gestrichene Bauten, der steil aufragende Vulkan, teils bewachsen mit Schilf, Erikagesträuch, Wolfsmilch, teils Wunden eines relativ frischen Brandes offenbarend, die obligatorische Rauchsäule produzierend, eine durchkomponierte Szene, die etliche Schichten aus Puder trug, vom Licht aufgepinselt, gekrönt von hoch in den Lüften vorübersegelnden Möwen. Ich roch das Salz, die See, deren Eigentümlichkeiten aus Tang und Fisch; vom Sonnenlicht gestreichelt, gegen die Strömung ankämpfend, das Meer um mich, ein Mü davon, wußte ich die Freiheit in mir, den Frieden, das leise, zarte Glück.

 

Tonight the stars you walk below/ The same that burned so long ago/ in an age of stolen virtues/ All You dreams deserted you / It´s a long life to live/ And I´m learning how to forgive/ Myself for all the things I did/ We are ordinarily beautiful/ Open to be ridiculed/ Common as the grass that grows so slow

 

Ich faßte mit der flachen Hand auf die gläserne Scheibe, hinter welcher silbern gleißende Lineaturen den Türspalt verrieten, durch den das Drübere fiel. Himmelspforte, Himmelslicht. Sie hieß Sofie und sie starb in der Nacht zum 19. Juli 2009. Sie hat sich nie verabschiedet, und darum kann sie nicht gehen. Ich trainiere, arbeite daran, die Kraft zu haben, sie huckepack zu tragen und mein Leben für zwei zu leben, für uns beide, ohne mich selbst zu verlieren währenddessen, ihren schmalen Höllengrenzgrat zu verwandeln in diamantene Silver Linings. So hat nie jemand etwas wahrhaftigeres, menschlicheres, weiseres ausgesprochen, auf den Punkt gebracht als Leonard Cohen:

 

 

There is a crack, a crack in everythingThat’s how the light gets in

 

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