222 Eisvogel Sekunden
München, November 2022.
Als ich auf dem Weg zum Friseur am Rande der Landsberger Altstadt – den Blick auf die roten, gelben, braunen Kronenkugeln der Uferlaubbäume geheftet – eine Brücke überquerte, gedankenversunken, zerstreut, gewahrte ich plötzlich ein metallen petrolblaues Surren. Freilich gab es keinerlei Geräusch von sich. Es flatterte, huschte, sauste lautlos über das Wasser hinweg, pfeilschnell, unter mir hindurch, adieu, und zu dem Erstaunen mischte sich pure, energetisierende Freude: ein Eisvogel, mitten im Ort, hinter mir eine dichtbefahrene, nervös machende, stinkende Straße, um mich herum neblig-graue Novembertrübe. Damit hatte ich zum sechsten oder siebten Mal in meinem Leben einen Eisvogel erspäht; nicht in Großaufnahme, Zeitlupe, HDI, es gab keine Details, der Winkel verwehrte das Rostorange des Bauchgefieders, eigentlich war es ein abstrakter Klumpen, mit den Augen erhascht und schon wieder entschwunden, genau wie die Sternschnuppen unlängst (vgl. Beitrag 221). Aber eben deshalb entzückte es mich so: daß ich exakt jene Sekunden erwischt hatte, daß mir das Tier überhaupt aufgefallen war, mich aus mich selbst und dem Alltagsbrei reißend (ich fahre übrigens sonst nie nach Landsberg zum Friseur). Früher, als ich noch von einer gewissen beseelenden Naivität erfüllt gewesen war, hätte ich es als Omen gedeutet, als magisches Zeichen meines Märchens, wie ich es nannte, ein Märchen, das sich längst aufgelöst hat, zerstieben, zerrieben, verpufft, ausgegast. Vielleicht bin ich einfach nur sehr spät erwachsen geworden, soll heißen: zur desillusionierten Person degradiert.
Wenn mich jemand, sehr selten geschehend, auf meinen Blog anspricht, ist es mir zutiefst unangenehm. Es beschämt mich, beengt, bedrängt. Die Frau, die schreibt, deckt sich nicht mit derjenigen, die Einkäufe erledigt, das Haus putzt, im Büro hockt, ins Kino geht, Gassi, zum Shoppen. Manchmal öffnet sich das Tor, während einer Ausstellung oder eines unbegleiteten Spazierganges, im Konzert, auf Reisen, und die Schreibende wird kurz kongruent mit der Erlebenden, Handelnden, dann muß man schnell zum Stift greifen, damit der Text sich nicht verliert in den zähen Klauen eines das Hirn zumüllenden Pflichtenallerleis. Wenn mich also jemand anspricht auf meinen Blog, wiegele ich flugs ab, wechsle das Thema oder verharre in Schweigen, das dem Gegenüber derart ungemütlich wird, daß der Wortwechsel zu dem Thema abbricht. Ich mache keine Werbung im Umfeld, verteile die tatsächlich zu diesem Zweck gedruckten Flyer nicht; meine Eltern und Freunde lesen mich nicht, zumindest vernehme ich keinen Mucks in dieser Richtung, was mir nur recht und billig ist. Paradoxerweise wäre ich neugierig auf das Feedback Fremder…, würde ich mir einen Lektor wünschen, der die Texte bereinigt von Tippfehlern und Wortwiederholungen, jemand, der redigiert und alles in eine Form bringt wie aus einem Guß. Meine Texte hier verstehe ich als eine Art Flaschenpost, losgeschickt ins Unbekannte, an Unbekannte; die meisten Botschaften zerschellen, gehen unter; manche werden aufgesammelt, mühsam entziffert; richtig weit kommt keine, das Meer ist zu groß und mächtig und unberechenbar. Mag sein, irgendwann – wie lange wird das per se anfällige, labile da abstrakt gespeicherte System Internet überdauern? – stolpert man über meine Zeilen und begreift: das hat es auch gegeben, diese Weltsicht, diese Meinung (politisch, gesellschaftlich, kulturell, ökologisch), diese Perspektive. Es waren nicht alle gleich geschalten. Der Sachverhalt gestaltet sich komplexer als Schwarz/Weiß, Gut/Böse, Fake/Real. Es hat auch das Flirren existiert, das Surren, metallen petrolblau zwischen der Stille. Ein Eisvogel für meinen inneren Schatz, den ihr nicht räubern, zerstören könnt. Einen Eisvogel, den ich jedem Menschen wünsche.