221 Vergessen
München, November 2022.
Ich hatte so lange keine Sternschnuppe mehr gesehen, daß deren Existenz meinem Gedächtnis entschwunden war. Kann man Sternschnuppen wirklich vergessen? Ich tat es. Und als es mir endlich auffiel, war ich schockiert. Dabei steht auf meiner (eigentlich geheim gehüteten) Liste an Reisewünschen eine winterliche Tour durch Marokkos Wüste, um dort vom Zelt oder dem Kamm einer Düne aus Himmelsphänomene wie etwa Meteoriten zu beobachten; wie jeden Abend seit über drei Jahren ließ ich den Hund in den Garten, kindlich schaudernd und mich ergötzend an den bizarren Schatten der Bäume, Sträucher, Stauden, die teils gänzlich schwarz-blau verschluckt, teils von einer Straßenlaterne grünlich-gelb überzogen reglos ausharrten; bei Windstille kratzt nicht einmal der Bambus die Fassade entlang. Wenn das Firmament frei ist von Wolken, suche ich die wenigen mir bekannten Sternbilder, stolpere ich über das orange Blinken der Elon Musk´schen Satelliten, derer er seit 2019 bereits über 2700 aktive ins All hat ballern lassen im Rahmen seines „Starlink-Projektes“, von den meisten Erdenbewohnern unbemerkt und unbekümmert. Ja, der Lichtertanz der Nacht bereitet mir mittlerweile eher Unbehagen, anstatt für poetisch-lyrische Stimmung zu sorgen…
Ich stand also frierend hinter dem Haus, darauf wartend, daß Montana fertig geschnüffelt haben würde, jederzeit bereit, in die Wärme der Wohnung zurückzutauchen, als ein weiß-blau-graues Schimmern sich in blitzschnellem Bogen nach unten bewegte und verglomm – – – bemerkt / vorbei, zwei Sekunden? Mir stockte der Atem. Ich wußte, was es war und zugleich entsetzte es mich, daß ich den Anblick einer Sternschnuppe aus meinen Erinnerungen gelöscht hatte, die letzte Beobachtung stammte aus der Kindheit bzw. frühen Adoleszenz. Ich wünschte mir nichts; im selben Monat sah ich noch zwei weitere.
Seitdem frage ich mich, welche anderen Selbstverständlichkeiten oder Schönheiten oder Naturgaben ich verdrängt, begraben habe, und insbesondere: warum dies so ist. Ich schwor mir, geistige Osmose zu betreiben, obwohl ich täglich spüre, wie meine sinnlichen und kognitiven Filter verstopfen vor lauter Infiltration mit vorgeblichen Informationen, die in meinem Leben so gut wie keinerlei Bedeutung haben. Ich bin so sehr mit Abwehr und Abschottung beschäftigt, daß die Kapazität zu fehlen scheint für das, was mir wichtig ist; Sternschnuppen, das hat mir meine Rührung begreiflich gemacht, gehören dazu.