195 Die Boulekugel
München, Oktober 2021.
Kurs Nummer XY. “Stellt euch doch mal kurz vor. Du, was fotografierst du denn so?” Ein Vollbart lächelt mich breit verschmitzt an. Ich murmle, weil ich an dieser Stelle stets ins Murmeln gerate. “Querbeet.” “Aha. Aha! Kinder? Katzen?”
Kinder? Katzen? – Auch, ja. Natürlich. Aber würde ich mich darüber definieren? – Einer antwortet: “Schwarz-Weiß.” Ein anderer: “Portraits! Vor allem seit unsere Tochter vor einem Monat geboren wurde, ist ja klar!” Zwei Freundinnen sagen: “Natur. Wald. Tiere.” – “Gut, gut.” Der Leiter notiert auf einem Klemmbrett fleißig mit (Wofür? Wir alle werden uns nach den vier Stunden auf dem Münchner Odeonsplatz bzw. Hofgartengelände wohl nie wiedersehen…). Er mustert mich knapp. “Und du willst deine Kamera verstehen. Hm. Das können dann aber bisher keine gescheiten Lehrstunden gewesen sein, wenn du das noch immer nicht drauf hast. ISO. Weißabgleich. Belichtungskorrektur. Blendeneinstellung.” Und ich höre den gesamten Nachmittag, was ich über die Jahre hinweg gehört habe. Ich fahre abends heim, müde, irgendwie ausgelaugt von den vergangenen Monaten und Kämpfen und begreife von der Kamera ebensoviel, ebensowenig als wie zuvor. Wir übten das Verwischen vorüberziehender Autos, Nahaufnahmen mit Bokeh von Lindenlaub und Marienkäfern, wurden dazu angehalten, “einzigartige, ungewöhnliche Bilder” zu machen, sodaß künftig während der nächsten Reisen wir gebeten würden, das Fotobuch für die gesamte Gruppe zu erstellen. Wir sollten uns “abheben”, “es anders machen”, und ich fragte mich: Was sollen wir anders machen?
Und ich dachte an all die Fotos, die ich nicht geschossen habe, mit keiner Kamera nicht: die matt-samtene, schwarzhäutige Hand eines athletischen 50jährigen, die eine Boulekugel umfaßt hielt, patiniert-silbrig, aufgleißend im Sonnenschein, bereit zum konzentriert-kontrollierten Wurf. Das kleine Mädchen in altrosa Wollkleid und weißen Söckchen, an denen Staub und winzige Kieselsteinchen klebten, wie es munter und unbekümmert die Arkaden entlanghuschte, goldgelockt. Die beige Französische Bulldogge, die mit wackelndem, runden Hinterteil durch den heiteren Herbst flanierte, dem Frauchen hinterher. Die Menschentraube um den Dianapavillon herum, dessen muschelverkleidete Innenwände eine filigrane Pianistin rahmten: sie war angetan mit schwarzen Glitzerpailletten und Clignon, der Rücken kerzengerade, das Gesicht leise entrückt; ihre Klaviermelodien tanzten zur Decke empor und aus den Durchgängen hinaus in das Wohlgefallen des Publikums hinein. Der Mann in persilreinem Hemd und langem Haar gleicher Couleur, dessen aristokratische Züge sich ausgiebig dem Smartphone zuwandten (ein bekannter Gastronom, hieß es). Unmengen an Leuten, friedvoll, für sich und dennoch gesellig, ein impressionistisches Gebilde, eher pointillistisch, diese Sonntagsbesucher, die ihre Jacken und Schals um die Arme gehängt hatten, weil die Temperaturen ein Luft- und Lichtbad zuließen.
Und nicht fotografiert: länger zurückliegend ein Ensemble großer Pilze auf einem gestürzten, verrottenden Baumstamm, elfenbeinern, taufrisch, perlmuttern, majestätisch, lauter geschnitzte Kostbarkeiten, lockend, wunderschön, Ballettänzer in flatternden Plisséekostümen. Die geernteten Zwetschgen, abggebraust mit dem Gartenschlauch, so prall, blau-seidig, Tropfen versehen, es waren mir Bergkristallperlchen. Das Gefieder der Hühner, das aus der Nähe betrachtet nicht nur braun-schwarz-weiß ist, sondern pfauenfarben schillert; das satte Gelb ihrer Läufe, die wachsame Pupille, der Ausdruck von Freude, wenn sie mir entgegenlaufen, um mich zu begrüßen.
Ich weiß, es klingt fürchterlich kitschig, aber ich glaube: man muß sein Motiv mit einer Form der Liebe betrachten, damit man es wahrlich entdecken und festhalten kann, sei es in Gedanken, auf der Tastatur, mittels Fotografie. Ich meinte immer, das wesentliche sei ein Interesse für eine Sache, etwas, das die Aufmerksamkeit weckt, einen neugierig macht oder verstört, und gewiß kommt das alles zusammen. Aber ohne innerliches Engagement bleiben die Sachen schal, rauscht das Geschehen vorbei, im Hintergrund verbleibend, außerhalb seiner emotionalen Scheinwerfer.
Eine Einladung, aus dem Kerker des ewig gleichen Denkens und Sehens und Handelns aufzuhorchen; sich aus dem Fenster zu lehnen und um die Gitterstäbe herum den Blick schweifen lassen.
Ich wünschte, ich hätte auf ISO und Weißabgleich und verwischten Verkehr verzichtet und stattdessen: sie einfach abgelichtet, jene hübsch geformte, Adern definierte, schwarzbraune Hand, die diese herrliche Boulekugel zum Wurf bereit hielt am mittäglichen Münchner Hofgartensonntag.