189 Ein Beitrag, mit dem ich mich sehr unbeliebt mache
München, Oktober 2021.
14 Monate. Ich war vierzehn Monate lang nicht unterwegs gewesen, und das Jahr zuvor auch nur auf einer einzigen einwöchigen Tour nach Andorra. Die häufigste Frage, die mir in diesem Zeitraum gestellt worden war, lautete: “Warst du verreist?”, so als würden meine Persönlichkeit und mein Handeln einzig aus Urlaub bestehen; so als existiere nichts anderes Sinnhaftes im Leben generell, als fremde Orte aufzusuchen und hernach – bitte seid ehrlich zu euch selbst – damit zu prahlen.
Ich brauche das Reisen nicht, um mich zu distinguieren oder mir einen Wert zu verleihen, mich interessanter zu machen oder zu einem Objekt des Neides.
Reisen war Freiheit, Andersartigkeit, Romantik, Schönheit, manchmal auch die Konfrontation mit dem Unmenschlichen; Reisen war ganz oft Weinen, ein melancholisches, trauerndes, mitleidendes Weinen, eines der Ergriffenheit oder des Glückes. Reisen war Lachen und Neugier. Reisen war Einsamkeit, war Miteinander, war Chaos, Lärm und unendliche Stille.
Ich habe mir etwas geschworen die vergangenen eineinhalb Jahre, für den Fall, daß mir die Gnade eines hohen Alters zuteil werden sollte: nie, niemals werde ich die Welt mir winzig schrumpfen lassen, nie werde ich mich ergeben in diese gleichgeschalteten Bahnen, seien es jene eines stumpfsinnigen Dorfes, in dem Korruption an der Tagesordnung steht, sei es durch Radio- oder Fernsehgeschwafel. ICH suche mir die Themen aus, mit denen ich mich beschäftigen möchte. ICH entscheide, was mir persönlich wichtig, wertvoll, lieb ist.
Ich las über die Geschichte des Make-Up, über die Kultur traditioneller japanischer Gegenstände; deutsche Gedichte, HAIKU-Lyrik; Gartenschilderungen, das Gefühl der Liebe aus biologischer und sozialer Sicht, Abhandlungen über Trost, Verletzlichkeit, Wertschätzung; die 1950er Jahre; die Story über “das berühmteste Parfüm der Welt”, Chanel Nummer 5; las über die Entwicklung der Körperhygiene in Europa, Kostümgeschichte. Ich las Biographien von Königinnen, Schrifstellerinnen, Architektinnen, Modedesignerinnen, Almsennerinnen, Pilzexpertinnen (jawohl, das echte -innen, weil es überwiegend Frauenportraits waren, nicht das hohle, nichtsnutzige Floskel-Gender-innen, das lediglich das Textverständnis erschwert und nervt).
Ich sah Reportagen, Dokumentationen, Filmjuwelen, in denen es um Plakatkünstler, Filmemacher, Rosenplantagen, Nachkriegsjahre ging. Ich besuchte Ausstellungen.
Pflanzte. Allein vorgestern setzte ich neun Sträucher und an die hundert Blumenzwiebeln.
Gereist bin ich vierzehn Monate lang nicht. Meinen Geist habe ich hinausgesandt, weg, in die Weite, habe ihn wehen und flanieren lassen, leiden, sich amüsieren.
Wenn man – wie fast alle in Westeuropa – ein Dach über den Kopf hat, eine warme Wohnung, genug zu essen, dann ist es die Pflicht, Verantwortung zu übernehmen über seine eigene geistig-seelische Freiheit. Nicht Nachplappern, wie schlecht dieser Sommer gewesen war (der Regen war für Natur und Landwirtschaft dringend notwendig nach den Dürrejahren – freilich rede ich hier nicht von den Hochwassergebieten!). Nicht Jammern, es fehle so sehr am Gelde und gleichzeitig als junge Menschen fette BMW-Limousinen fahren, VW California Busse anschaffen oder Wohnmobile, Naturschwimmteiche anlegen lassen, alles Luxus auf Pump. Nicht Beklagen, wie wahnsinnig anstrengend es sei, wenn der Kindergarten in den Ferien geschlossen habe und man sich selbst rund um die Uhr um den Nachwuchs zu kümmern habe.
Meine Mutter lebte in einer Wohnküche zusammen mit dem Tuberkulose kranken Großvater. Wenn sie zur Toilette musste, ging sie aufs Plumpsklo im Freien, wo sie sich vor den Ratten fürchtete. Ihr Bauch ziert eine Brandnarbe vom Wäschetag, als der Heißwassertrog versehentlich umkippte (zur “Behandlung” wurde auf die Verletzung Mehl geklatscht).
Mein Vater sprach immerzu von Hunger. Mit vierzehn Jahren zog er mehrere hundert Kilometer weg von seiner Heimat, um als Lehrling in einem 1-Zimmer-Appartment ohne Bad zu leben.
Als meine Eltern sich in einer Diskothek kennenlernten, zogen sie in derselben Woche zusammen (in die gemietete 1-Zimmerwohnung meiner Mutter von 18 Quadratmetern), um sich so die Miete für den Appartmentraum meines Vaters zu sparen.
Später, in einer größeren Wohnung, erledigte meine Mutter um fünf Uhr morgens den Haushalt, ging danach zur Arbeit, während mein Vater studierte und sich um das Baby kümmerte.
Mein Vater verbrachte sechs volle Jahre seines Lebens (die Tage 24 Stunden gerechnet) im Auto, nur um zu diversen Arbeitsstätten zu fahren und zurück (über 1 Millionen Kilometer). Er fuhr vier Uhr morgens los, arbeitete zwei Schichten (16 Stunden körperliche Tätigkeit), kehrte gegen Mitternacht nach Hause zurück, oft später. Ich malte ihm täglich Bilder, unter die ich schrieb: “Fahr vorsichtig!”, jahrelang unsere einzige Kommunikation.
Diese meine Eltern müssen sich heute mit Neid konfrontiert sehen, wenn sie sich einen Tesla anschaffen oder gelegentlich nach Afrika fliegen.
Die Biographie meiner Eltern ist hier nur lückenhaft dargestellt, aber worauf ich hinaus möchte: unsere jetzige Gesellschaft ist in ihren Ansprüchen derart verzerrt und verzogen, daß ich für das Alltagsgejammer kein Verständnis aufbringen kann.
Vielleicht würde es euch besser gehen, wenn ihr nicht blind drei Kinder in vier Jahren in die Welt setzt, weil das Baukindergeld Anreiz dazu gibt oder es gerade Mode ist, und vielleicht nicht der billigen Zinsen wegen euch Eigentum leistet, das ihr euch gar nicht leisten könnt. Vielleicht muss es ja nicht der eigene Naturschwimmteich sein, sondern reicht euch der Badesee im übernächsten Ort, zu dem ihr mit einem durchaus sicheren aber günstigeren Auto fahrt als dem 5er BMW oder VW California. Und statt auf den Tesla des Nachbarn neidisch zu sein, fragt ihr euch einmal, was das an Opfer und Entbehrung gekostet hat und ob ihr das überhaupt auf euch nehmen wollt.
Ich fühle mich nicht mehr zu Hause. Im Dorf nicht, in der Gesellschaft nicht, nicht in der Politik, im kaputt gerodeten Wald. Wieso sollte ich verreisen? Ich kann dem, wohin ich zurückkehren müßte, nicht entfliehen. Ich kann nur meinen Kopf relativieren, indem ich mich mit möglichst vielen Themen beschäftige und Trost sowie Hoffnung darin fnde, daß Menschen in Europa vor Generationen mit ganz anderen Nöten konfrontiert gewesen waren und wörtlich um ihr Leben zu kämpfen hatten. Und so schleicht sich in meine tägliche Wut, in meine oft grenzenlose Verzweiflung, ein anderes Gefühl ein: jenes der Dankbarkeit. Ich danke dafür, daß die Welt um so ein vieles größer, komplexer, variantenreicher ist, als der Zeitgeist es uns einflüstern mag. Freiheit ist verwandt mit Loyalität, Respekt und Wahrheit. Warum lügt ihr euch selbst an? Schiebt die Schuld – für alles und jedes – infantil auf andere ab?
Ich weiß, weshalb ich kein angenehmer Zeitgenosse bin und allseits unbeliebt: ich verabscheue Lüge. Mich ekeln Opportunismus, Lobbyismus, Korruption, Tatsachverfälschung, Schönfärberei. Ich bin hart zu mir, bin hart zu anderen. Ich weiß, daß ich für diese Welt mitverantwortlich bin, daß ich ein Teil von allen Geschehnissen bin, ob ich es will oder nicht.
Wenn ich mir etwas wünsche für diesen Blog, dann dieses: späteren Menschen damit aufzuzeigen, daß es auch andere Ansichten und Meinungen gegeben hat, damit es nicht wieder kollektiv-vorwurfsvoll heißt: Warum habt ihr nichts dagegen unternommen? Mittlerweile weiß ich: kein noch so objektiv verfaßtes Geschichtsbuch kann die Vergangenheit in all ihrer facettenreichen Wahrheit wiederspiegeln.
Es ist leicht und nützlich, unbequeme, vielleicht gar quälende Stimmen zu diffamieren, zu deklarieren, in die rechte (oder linke) Ecke zu stellen, damit man sich nicht weiter zu beschäftigen braucht mit Inhalten, die alle betreffen, ob man will oder nicht.
Wohl werde ich mir irgendwann selbst vorwerfen, nicht ausreichend aktiv geworden zu sein; aber niemals werde ich mir selbst vorwerfen, daß ich mir die Welt habe schrumpfen lassen.
Was sagte der viel zitierte Dadaist Francis Picabia? “Der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung wechseln kann.”