188 Im unwahrscheinlichen Fall
Oman, März 2015.
“In the unlikely event of an accident…” Alles lachte schallend, Passagiere, Guide, Crewmitglieder, der Safety Instructor unterbrach sich selbst, um darin einzustimmen, die allgemeine Heiterkeit. Es war ein kleiner, alter aber gut in Schuß gehaltener Motorsegler, auf dessen Deck wir den Anweisungen lauschten, denen wir Folge zu leisten hätten, sollte etwas unerwartetes geschehen, ein Notfall eintreten, sagen wir ein Brand. Wo man die neongrellen Schwimmwesten finde und das Rettungsboot, oberste Regel sei, nicht in Panik auszubrechen – ein auswendig gekannter Text, zügig-monoton heruntergeleiert, all right?, dann Leinen los und ab aufs Meer hinaus Richtung Musandam.
Obwohl ich zu Seekrankheit neige, liebe ich das: sanftes Schaukeln, aufspritzende Gischt, der immerzu schäumende, weiße Bläschenschleier, den man hinter sich herzieht, ein hypnotisches Bild, als starre man zu lange in die Augen der Schlange Kaa aus Disneys Dschungelbuch… Das tanzende Glitzern draußen auf dem Blau, der Fahrtwind, der einem das Haar ins Gesicht schlägt, Salzfeuchte und der Urschrei der Welt, Möwenlaute… Wir wollten Ausschau halten nach Delfinen, wollten es uns genüßlich gut gehen lassen nach den vielen Tagen trockenster Hitze, der wir wandernd durch die Bergwadis standgehalten hatten, dreißig Grad Celsius um neun Uhr morgens, und das, wo daheim Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt geherrscht hatten… Auch das war schön gewesen, ja. Den Körper spüren, sich bewegen. Licht tanken, sich der Weite öffnen. Am Boden zuweilen dickfleischige Sukkulenten mit schwarz-bordeauxfarbenen Blütensicheln, ein Gewächs wie aus einem Schauerroman Gustav Meyrinks. Spontane Einladungen Einheimischer, drei Gläser schwarzen Tees, frisches, aromatisches, safttriefendes Obst, Melonen, zuckersüße, klebrige Datteln, freundliche Gesichter, Gastfreundschaft. Lose, wilde Zeltcamps syrischer Flüchtlinge. Ziegen.
Natürlich entstandene, aquagrüne Becken zwischen den Felshängen, die wir schwimmend querten, all unser Zeug in wasserdichten Säcken verpackt hinter uns mitzerrend. Oh, dieses Wasser, so klar und türkisen und lyrisch, wie es das aufgeheizte Blut herunterkühlte, den Kopf weckte, die glatten Steinwände neben uns, hoch aufragend in die Endzeit hinein, und am Grund zuweilen Algengeschlinge und winzige Fischlein. Das Frösteln nach dem Auftauchen, während man hinaufkletterte aus den amorphen, langen Naturpools hinaus, während man sich abtrocknete und die Kleider wechselte – ein Frösteln, wo doch rungsum alles kochte und garte und briet im Flirren…! Und weiter die Berge erklimmend gab es wieder nichts als Staub und Grelle. Die Schirmmütze trug ich fest in die Stirn gezogen. Seit einiger Zeit war der Pfad keine dreißig Zentimeter breit, voller Geröll, das in einen Abgrund mündete, senkrecht fallend. Von der Flanke her stülpten sich regelmäßig bauchige Wölbungen hervor, die es zu erklettern galt. Ein wenig wie Bouldern auf einfachstem Niveau – wäre der Sturz nicht folgenreicher… Nicht völlig schwindelfrei, ausgelaugt von Hitze und Konzentration, zitterten mir die Knie. Ich klammerte mich mit der einen Hand am scharfkantigem Felsen fest, griff mit der anderen aus, wandte den Kopf – und donnerte mit gesammelter Wucht gegen eine weitere Auskragung, die ich der Schirmmütze wegen nicht im Blickfeld gehabt hatte, sodaß mir die Zähne knirschten und sich alles in Schwärze verwandelte. Ich hörte nichts und sah nichts und umkraxelte das Hindernis, setzte Fuß vor Fuß, meinem Tourpartner hinterher, der einige dutzend Meter voraus war, ich, die ich das Schlußlicht der Truppe bildete. Irgendwann klärte sich das Getöse in mir, kehrten die Farben zurück und auch meine Worte. Daß ich mir den Schädel angeschlagen habe, rief ich vor; Wo?, kam es zurück. Am letzten Überhang, antwortete ich. Was? Der da hinten?? – Ich war etwa dreißig, vierzig Sekunden im Automatikmodus weitermarschiert, obwohl mein Bewußtsein einen totalen Aussetzer hatte… Ich lüpfte das Cappi – Blut tropfte hervor. Oh. War wohl doch recht heftig gewesen… Abends im Zelt spülte ich mir mit dem bißchen Waschwasser, das aus meiner Trinkflasche stammte, den verkrusteten Schorf aus dem Ponyhaar. Genäht werden brauchte nichts – wäre auch schwierig gewesen mitten im wüsten Bergreich des Oman…
Ich genoß also die müßige Zeit an Bord des unscheinbaren Motorseglers, der die Küstenlinie entlangwankte. Entlangwankte? Ich erwachte aus meinen Tagträumereien. Der Himmel zeigte sich grau, kein Blinken und Glitzern mehr auf dem Meer, dafür interessante Formationen aus Kamm und Tal, Tal und Kamm, zackige Pyramidenspitzen, auf und ab, hin und her. Ich kullerte auf der Bank nach links, kullerte zurück nach rechts. Alles lag immerzu schief, bloß die Perspektive änderte sich abrupt nach der einen Neigung, nein, der anderen und wieder so und dann erneut hier. “Puh! Mein Magen!” grinste mein Reisefreund Oliver, ein bißchen blaß um die Nasenspitze. Unser Wanderguide, eine athletische Israelin, hüllte sich in brütendes Schweigen, die Kapuze der roten Regenjacke weit über den Kopf gezurrt. Ein bäriger Wind knatterte uns um die Ohren, ich begab mich in die Kabine, mich wärmer einzupacken. Als ich wieder heraustrat aufs Deck zur restlichen Gruppe, tat es einen unerwarteten Holperer, der mich beinahe Fallen machte. Ich schwuppte nach vorne, direkt auf die Stelle zu, von welcher aus man normalerweise (d.h. an Land) das am Pier vertäute Schiff verläßt, eine Stelle, die bloß mit einer Kette “verschlossen” war. Ich sah mich im Geiste unten durchflutschen hinaus in die grollende omanischen See, als mich der Safety Instructor reflexartig am Oberarm packte und im letzten Moment stoppte. Seine Augen waren schreckgeweitet. Er bugsierte mich zu meinen Reisegefährten, da ich mich kaum auf den Beinen zu halten vermochte, so sehr kippte der Moorsegler auf der Oberfläche. Auf der Bank sitzend verkrallte ich mich in der Reling; Wasser schwappte zu uns herauf, das Holzdeck mit tanzenden Lachen beschenkend. Die Wolken hatten sich schwarz gefärbt, der Wind toste. Unser Safety Instructor baute sich vor uns auf, das Gesicht verhärtet, angespannt. Es täte ihm sehr leid, sagte er gepresst in Akzent starkem Englisch, aber Delfine würden wir heute keine mehr sichten… Und auch die angedachte Ankerstelle sei nicht erreichbar, wir müßten uns in eine Fischerbucht retten. Sagte er retten?! Ich schielte zu Oliver herüber. “So unlikely” raunte ich ihm zu, “ist das event of an accident wohl nicht mehr.” Er grinste breit. Unser amüsiertes Lachen verschlang der Sturm.