146 Global Kintsugi
München, Oktober 2020.
Vielleicht habe ich versehentlich von einem Zaubertrank erwischt; ich komme mir vor wie ein Riese, ein Gigant, der wächst und immer weiter wächst, während die Umgebung zusammenschrumpft, mental- klaustrophobische Enge übriglassend. Scheinbar der literarischen Vorlage folgend, wähne ich mich gefangen und gefesselt, bewegungsunfähig, von Hunderschaften von Speerspitzen gepiesackt und gezwickt. Die Restriktionen der Corona-Hysterie, die omnipräsenten, niveaulosen, gesteuerten medialen Outputs jeglichen Themas haben meinen Kosmos winzig klein und nichtig gemacht, die Beschränktheit auf und in meinem pseudo-dörflichen Wohnort tut es. Nicht vor den Scherben einer finanziellen Existenz stehe ich (ein Schicksal, das gleich einem Flächenbrand umsichgreifen wird die nächsten Monate und Jahre), sondern vor den Trümmern eines Luftschlosses, einer Illusion. Ich habe mich selbst betrogen und geglaubt, autark zu sein, frei und eingewoben in ein öffentliches, soziales Netz, das sich Gesellschaft nennt oder Kultur oder Weltgemeinschaft. Jedoch bin ich vernünftig und moralisch und damit anachronistisch, auf die Verliererseite geworfen.
Im und mit dem Reisen habe ich immer auch Wahrheiten gefunden, die über das verblendete Aktuelle hinausreichen, die eine Neuausrichtug, eine Feinjustierung erlaubten. Mit dem Reisen konnte ich außerdem vor der Tatsache flüchten, daß ich keine Lebensaufgabe habe, die mich leitet. Mir werden Menschen wie Karl Lagerfeld stets ein vollkommenes Wunder bleiben, die zielstrebig und tatkräftig an Dutzenden Projekten unterschiedlichster Sparten arbeiten, einen Sinn sehen, einen Willen haben, die richtigen Leute kennen (und sofern nicht der Fall, sich solche suchen), die ihr Ding durchziehen ohne Dünkel und Wankelmut, ohne Energieverlust oder Ängste, Leute mit Charakter, Fähigkeiten, Fleiß und Wirksamkeit. Sogar einen Forscher auf dem allgemein wenig geachteten Gebiet der Schleimpilze, den eine ARTE Dokumentation vor mehr als zehn Jahren portraitierte, habe ich beneidet um seine Leidenschaft und sein Engagement. Mittlerweile weiß ich, daß es für meine ewigen Zweifel und Unzulänglichkeitsgefühle einen Begriff gibt, das Hochstaplersyndrom, und exakt so hatte ich mich bezeichnet hier in einer Passage über Island: als Hochstaplerin (vgl. Beitrag 34), bloß weil ich mir die Erlaubnis erteilt habe, eine Webseite zu veröffentlichen.
Wenn im traditionellen Japan ein keramisches Gefäß zu Bruch geht, eine geschätzte Teeschale etwa, so wird diese in einem langwierigen, hoch komplexen Prozeß repariert und sogar veredelt: extrem vereinfacht ausgedrückt erhalten die Klebestellen eine Vergoldung, die den defekten Gegenstand trotz des Schadens zu etwas wertvollerem machen als er es zuvor gewesen war. Diese Technik nennt sich Kintsugi, und mit aller Macht, beinahe Gewalt, versuche ich sie im Übertragenen anzuwenden auf unser gesprungenes, zerplatztes Jahr 2020. Ein Buchprojekt, noch in Kinderschuhen steckend – eher Babysöckchen – nimmt Gestalt an in meinem Kopf, eine Synthese aus Inputs der vergangenen Dekade, die sich urplötzlich zu konkreten Ideen und Vorhaben in meinem Kopf auswachsen. Ein einem bestimmten Thema gewidmeter Bildband soll es werden, wobei ich für die Konzeption, Recherchen, Interviews und Texte verantwortlich sein möchte; einen Fotografen suche ich noch.
Mir selbst traue ich die Illustration nicht zu, die begleitenden Aufnahmen. An dieser Stelle nämlich schreit das Hochstaplersyndrom entsetzt wie gellend auf, mich paralysierend, mich zum Stop zwingend, ein Signal, auf das ich mein ganzes Leben lang gehört habe. Vielleicht aber ist die Enge um mich herum nun ausreichend drückend, jede wache Faser erstickend, daß sie die Angst, nicht zu genügen, endlich zu überwinden vermag, daß die Qual des geistigen Gefängnisses schwerer wiegt als die Scham bzw. Anmaßung über die eigene (vermeintliche?) Verfehlung.
Draußen vor dem Küchenfenster steht ein Kirschbaum in Flammen, kein Wort gibt es für dieses Rot, reißend, energetisierend, ein strahlendes, violett stichiges Bordeaux voller Stärke und Anmut. Das Gold für unser Kintsugi, das holen wir aus solchen flüchtigen, alltäglichen Beobachtungen; nicht spekatkulär und befriedigend für die Masse an Followern, doch tröstlicher Balsam der individuellen Seele und vollkommen frei zugänglich.