145, Teil II: Wo man Andorra findet
Andorra, August 2020.
Am Flughafen erfahren wir: der Maulkorb ist plötzlich auch im Freien Pflicht, nicht nur in den Geschäften. Die Bergwelt durchwandernd dürfen wir ihn abnehmen; an den Tagen mit Kulturprogramm heißt es: sechs, sieben, acht Stunden lang Keime anzüchten, schön ins warm-feuchte Millieu atmen, den Erregern ein optimales Gedeihklima bietend. Eine Mitreisende reagierte mit einer Allergie, ihre Nase schälte sich blutend.
Verkehrsrauschen auf nasser Fahrbahn, ein famoser Soundtrack für die furchtbar häßlichen Ortschaftem Andorras, aus dem Boden gestampfte Betonbauten von pseudo-modernistischem Anstrich, scheinverblendet mit dunklem Granit, die Fensterleibungen und -sprossen pechschwarz, die oft spitzen Dächer ebenholzfarben, leichendüster und seelenlos. In den Auslagen der Geschäfte stapelte sich der Ramsch, den ich nicht geschenkt genommen hätte, billige Parfüms neben Sonnenbrillenimitaten und Massenschmuck. Gelegentlich dröhnten sie durch die Straßen, die Lamborghini, Bentley, Porsche, Mustangs, aus der Menge der Kompaktwagen hervorstechend, sonst zeigte nichts an, daß es sich um einen wohlhabenden Zwergstaat handelte (außer vielleicht die Lalique-Gläser und Luxustaschen der Hauptstadtläden).
“Ich dachte,” setzte ein Mitreisender an, “Andorra bestünde aus lauter kleinen Bauernhäuschen, an die Hänge geschmiegt, auf den Dächern uralte Schindeln.” Ich wollte eben beipflichtend nicken, auch ich war völlig überrascht, um nicht zu sagen überrumpelt, vom Widerspruch zwischen meinen Erwartungen und den tatsächlichen Gegenbeheiten, da fuhr er fort: “Und stattdessen sehen wir all diese grandiose Entwicklung, die neuen Gebäude, tollen Kaufhäuser, hach, einfach so viel Flair und Atmosphäre!” Ich hielt den Mund, speiste ein knuspriges Vanilletörtchen, wie sie ausnahmslos in Südländern schmecken, entdeckte eine Frau in der vierten Etage gegenüber, die kleine Tochter im Arm haltend. Fröhlich lachend winkten sie herab – ein Hauch von Leben inmitten künstlich-touristischer Tristesse.
In direkter Nähe zum Hotel befand sich das dreistöckige, kostenlose Comicmuseum; die freundlich blitzenden, haselnußbraunen Augen des ehrenamtlichen Mitarbeiters dort gefielen mir außerordentlich. Was hatte ich mit Comics am Hut? Als Kind hatte ich zunächst Bussi Bär und Bello sowie Petzi vorgelesen bekommen, ehe ich selbst in den Micky Maus – und Asterix – Heften schmökerte. Gegen Ende der Jugendzeit gesellte sich noch Elfquest hinzu. Mehr Comicerfahrung besaß ich nicht. Von klassischen Ausstellungen habe ich mittlerweile die Nase voll, sie sind mir zu gleichförmig, stereotyp, oberflächlich gestaltet, so auch die Privatsammlung der Carmen Thyssen in La Vella, wo mich die offensichtliche Nervosität des Wachpersonals zum Schmunzeln brachte, das – obwohl etliche andere Besucher unterwegs waren – mich partout nicht aus den Augen lassen wollte: zielsicher war ich vor dem mit Abstand wertvollsten Gemälde verharrt, es wohl zu ausgiebig studierend (irgendeine Kompetenz muß man sich als Kunsthistoriker erworben haben, das Erkennen von Qualität gehört dazu). Im Comicmuseum hingegen flanierte ich völlig unbeachtet die Regalreihen entlang. Mich interessierten die aufgehängten Originalzeichnungen der Künstler im Vergleich zum gedruckten Bild sowie die Farbentwicklung (d.h. Farbvorliebe) über die Jahrzehnte hinweg. Mich schockierten die pornographischen Darstellungen weiblicher Körper sowie die unreflektierte Gewaltverherrlichung: ein amerikanischer Action-Autor entwarf seine Waffenzeichnungen nach den Vorlagen eines Sachbuches der nationalsozialistischen SS…
Im Oldtimermuseum wiederum faszinierten die gepflegten Wagen, aus den Jahren 1884 bis etwa 1970 stammend, darunter der älteste, erhaltene (bekannte) Renault. Aus Weide geflochtene Schirmablagen, kristallgeschliffene Blumenmuster in den Scheiben, Fahrzeuge, wie sie die Serien Downtown Abbey oder Poirot prägen, fantastische, hellgrün oder blassblau lackierte Karosserien, Rennautos, Limousinen, Taxis, Prototypen, ein inspirierendes Kaleidoskop an Design. Ein Genuß, wäre der stigmatisierende, lästige Maulkorb nicht.
Bei der Casa Rul handelte es sich um einen ethnographisch umgewidmeten, einstmals betuchten Hof. Ich durchschritt die imposanten Räume voller Geschichte, trat über die Schwelle zur Wohnstube – – –
Ich gewahrte den riesigen, etliche Meter langen, zerschrammten, vom Gebrauch blank polierten Bohlentisch, die urigen Holzdielen, die Durchblicke zu Küche und Schlafzimmer, die Porzellan gefüllten Schrankvitrinen, gewahrte alles en passant, denn ich befand mich urplötzlich in einem Sog. Da war etwas, das mich bannte, immateriell bzw. energetisch, eine Art Strudel vielleicht, wie soll man das als rationale, gebildete Person erklären? Von einer Sekunde zur nächsten hatte sich etwas gewandelt, etwas, das schneidend in der Luft hing und mich in eine Richtung lenkte, mich anzog. Eigentlich unscheinbar in einer Ecke war ein Herrgottswinkel an die Wand genagelt, ziemlich häßlich und düster, arg bäuerlich, rußveschmutzt und schmierig geworden, man erkannte kaum, welcher heiligen Figur er eigentlich zugedacht war, vermutlich der Mutter Gottes; die Seitenflügel standen offen, war da noch ein Rosenkranz? War da Zinn? Ich kann mich nicht erinnern. Denn der Sehsinn wurde zweitrangig, auch Riechen, Hören, Schmecken verblaßten: es war das Tasten, das in hohem Maße aktiv wurde, ein Spüren über die Haut hindurch bis hinein ins tiefste Mark. Es vibrierte um das Kästchen herum, ich vermochte kaum, mich loszureißen, war gefangen in einer Starre. Da schwirrten und summten, tanzten und fegten Tausende und Abertausende von Gebeten herum, Fürbitten, Segenswünsche, Flüche, Ängste, Sorgen, Nöte, Dankessprüche, eine Konzentration binnen Jahrhunderten angesammelter Emotionen… Ich vergaß sogar, zu atmen. Doch noch etwas gefunden von Andorra, schoß es mir durch den Kopf, das hier war Andorra!