138 Glockenläuten
München, Juli 2020.
Seit Jahren stehen jeden Juli irgendwo versteckt im Wald, verzahnt mit mannshohen Brennesseln, Kletten, Baldrianen und üppig umsummten Himbeerblüten die warm-orangen, feurig leuchtenden Taglilien, die einst als illegale Gartenabfälle dort entsorgt worden sind und nun Saison um Saison ausgreifender, vielköpfiger wuchern, ein Fest für die Augen. Vor einigen Tagen sandte ich per Mail meiner in den USA wohnenden Tante – Gefährtin in allen Dingen der Kunst, Schönheit, Natur – Fotos von diesem überraschenden, verzückenden Sommerbild; ob sie sie noch gesehen hat, ich weiß es nicht, nun jedenfalls ist sie tot.
Die Menschen um mich herum, sie verlieben und verloben sich, heiraten, bauen Häuser, werden befördert, kriegen Kinder, leisten sich große Autos und schicke Reisen.
Als ich 17 war, erschlug mein Onkel seine Gattin, um sich darauf an einem Baum zu erhängen. Im zweiten Studiensemester fanden wir, zurückgekehrt von einer Bergwanderung, meine Oma mit verzerrtem Gesicht einem Herzinfarkt erlegen im Bett vor. Während ich im 11.000 Kilometer entfernten Galápagos schnorchelte, vergiftete meine Schwester sich mit Schlaftabletten. Und nun ist lediglich ein Jahr nach der Diagnose der einzige Mensch, der mich wenigstens ein bißchen verstanden hat, einem grausamen Krebsleiden voller Qual und Schmerz erlegen.
Sie sagte, ich solle die Dahlien vor den Schnecken bewahren und Fotos schicken, wenn sie blühen: heute sind die ersten aufgesprungen, bordeaux-violett. Trost oder Hohn?