137, Teil II: Casati Augen Fortsetzung
Peru, Juni 2009.
Ich denke, es war der vierte und vorletzte Tag des Trekkings, als Soroush mich mit seiner Aufmerksamkeit beehrte. Er erkundigte sich nach diesem und jenem, während er neben mir herwanderte, gelegentlich innehaltend, auf Pflanzen deutend, sie benennend, ihren Verwendungszweck als Nahrungsmittel oder Heilkraut erläuternd. Er pflückte kleine, ovale, aromatische Avocados am Wegesrand, rupfte Laub, zerrieb es zwischen den Fingern, hielt es mir unter die Nase: daß die Blätter des Mangobaumes genau wie die Früchte rochen, demonstrierte er mir. Ich genoß es, daß ein solch spannender Mensch, ein ungemein attraktiver Mann, sich in meiner Nähe aufhielt; er berichtete mir ausführlich von Paulo Coelhos Alchimisten, rezitierte daraus, erklärte mir seine Sicht auf dieses Stück bekannter Literatur, das ich wenige Wochen später in einem Laden für gebrauchte, englische Bücher erstöbern sollte in Ecuador, lesen und Gefallen finden daran. Ach, nie hätte ich geahnt, nie!, daß Soroush mir mit seinem Verweis auf Coelho monatelang Trost spenden sollte, denn nach dem plötzlichen Tod meiner Schwester verschlang ich dessen spirituelle Werke eines nach dem anderen, allen voran The Witch of Portobello…
Soroush plauderte also über Blüten und Knollen, Belletristik, seine iranische Herkunft, bis seine Worte nach und nach versiegten. In nicht unangenehmem Schweigen gingen wir ein gutes Stück gemeinsam weiter, immer der Heiligen Stadt entgegen, Schmetterlinge wehten vorüber, glitzernd, heiter. Dann beschleunigte er, trat neben Magalie, die vor uns lief, sie begrüßend mit einem coolen “Hi!”. Der Sand in meiner Uhr war zu Ende gerieselt, Soroush hatte das Glas umgestülpt für die nächste Person. Alles in mir schrumpfte zu einem winzigen Punkt zusammen. Ich war passé. Der Wind strich über die Hänge ringsum, machte die langen Gräser wirbeln und wogen, mir Freiheit versprechend, Komplizenschaft anbietend. Wenn der Mensch dich verläßt, ist sie noch da, die Natur.
Berlin, Mai 2013.
Ganz selten schrieb er mir eine Mail, von seinen Reisen berichtend. Eine begonnene Briefkorrespondenz nach Kolumbien hatte ich abgebrochen, zu sehr hatte der Tod meiner Schwester generelles Desinteresse hinterlassen, Gleichgültigkeit, Perspektivelosigkeit. Ich trauerte nicht wirklich, führte mein Leben, den Alltag fort, aber beides hatte an Bedeutung verloren, an Sinnhaftigkeit. Ich öffnete seine Nachricht: daß er kommendes Wochenende (es war Dienstag) an einem Berliner Medizinerkongreß teilnehme, der sich u.a. mit traditionell gewonnenen Wirkstoffen lateinamerikanischer, indigener Völker beschäftige, er auf Einladung der Pharmaindustrie dorthin fliege und sich ja einen BMW mieten könne, um mich im 585 Kilometer entfernten München zu besuchen, einen Dreivierteltag habe er frei dafür. Rationale Frau, die ich bin, dachte ich mir: Bullshit. So war ich diejenige, die ein Zugticket nach Berlin löste, kurz entschlossen, um ein verlängertes Wochenende inklusive Museumsmarathon zu verbringen in der Hauptstadt, und um für einige Stunden Soroush zu treffen, vier Jahre nach unserer Begegnung während des Salkantay Trekkings.
Ich kannte Berlin bereits, war aber zuvor nicht im Mai da gewesen. Wir saßen im Tiergarten (ein Park, kein Zoo, für diejenigen, die es nicht wissen) auf dem bloßen Rasen, vor uns ein Weiher. Eine Märchenwelt umgab uns, ein Zauber aus Blau und Violett, üppige Blütenkugeln an knorrigem Geäst: die Rhododendren explodierten in kalten Tönen, unerwartet für mich, mich an Nepal erinnernd (vgl. Beitrag 103), ihre geschwungenen Kronen und leuchtenden Farbwolken spiegelten sich genau wie die schlanken, weißstämmigen Birken im ruhigen, schwarzen Wasser, in das ich gelegentlich Steinchen schnippte. Es war so schön, man hätte weinen mögen vor Glück und Freude! Ein Geschenk des Zufalls, ein kleines Wunder.
Mein Englisch hatte sich mittlerweile gebessert, Soroush und ich parlierten; daß Magalie Mutter geworden sei, wußte er, und wie es den Brasilianern gehe; daß der Kongreß erfolgversprechend verlaufen sei, er seine gewählte Heimat Cali liebe. Wohin er demnächst reisen werde und wie gerne er an den Salkantay denke; auch lauschte er gebannt dem, was ich zu erzählen hatte, von meiner Heldenentdeckung auf den Azoren (ja, damals war es noch ein Held für mich, Verzeihung, daß ich es abermals erwähnen muß, obwohl es mittlerweile – zu seiner wohl erheblichen Erleichterung – nichts weiter ist als ein vages Gespinst, eine dumme Mädchenphantasie, eine fast versunkene Anekdote, vgl. Beiträge 7 und 90). Ich spürte, wie Soroush jedes meiner Worte förmlich aufsog, ein ausgetrocknetes Schwämmchen, das Flüssigkeit findet, was mich irgenwie amüsierte, denn meine Aufregung ihm gegenüber hatte sich längst gelegt, er war nett und vielseitig und interessant, ein Mann mit außergewöhnlich intensiv-dunklen Augen, mit dem ich ein ganz klein wenig Zeit in einem lila Zelt aus sich versprühenden Frühlingssträuchern verbrachte, dies und nicht mehr.
Daß er mich immerzu habe ansprechen wollen, sagte er unvermittelt. Daß es ihn gedrängt habe, so sehr, mit mir zu reden, damals während der Wanderung. Daß er meine Nähe gesucht habe, Austausch, daß ich ihn fasziniert habe, aber er sich einfach nicht getraut, den ersten Schritt zu tun. Ja, lange habe er es nicht gewagt, einen Satz an mich zu richten, eingeschüchtert sei er gewesen, gebannt, because of Your eyes, so dark and intense, striking. Ich war derart verblüfft, daß mein lautes Lachen und Glucksen die Tauben aufschrecken ließ und gen Himmel flattern, der sich weit und hell über uns spannte. Soroush und ich speisten anschließend in einem indischen Lokal zu Abend, in angeregte Konversation vertieft.
Wir sollten nie wieder von einander hören, der Kontakt ist abgerissen. Die Casati-Augen jedoch bleiben unvergessen.