118, Teil I : Ciao Ciao

118, Teil I : Ciao Ciao

Portugal, November 2019.

Ich werde die Naturgewalt nicht zu spüren bekommen. Kein Wind, der an mir rüttelt, an meinen Kleidern zerrt, kein Brandungstosen, das mir durch die Brust donnert, kein Geruch nach Wildnis und Freiheit. Keine Rekordsurfer, die die 30-Meter-Marke knacken.

Ich stand am Aussichtspunkt nahe des kleinen Leuchtturms auf el Sitio, Nazaré, zusammen mit etlichen anderen hoffnungsvollen Schaulustigen. Ein Musiker sang zu Gitarre und Synthesizerklängen Lieder über die Liebe, zwei junge Frauen tanzten spontan und ein wenig linkisch dazu. Ein nordischer Typ, hellblonde Locken, Vollbart, braungebrannt, parkte sein eindrucksvoll ausgestattetes Fahrrad an der niedrigen Mauerumfassung, die den Abgrund sicherte: vier Packtaschen, drei Getränkehalter samt Flaschen, zwei seitliche, an Lenker und Rahmen angebrachte Wäscheleinen inklusive Klammern. Wo sich beim Personenkraftfahrzeug das Nummernschild befinden würde, war ein Foto befestigt, das die bronzene Meerjungfrau von Kopenhagen zeigte. Ein zierliches, fast zerbrechliches Mädchen starrte wie hypnotisiert auf den spielerisch rollenden, sanften Ozean herab, man merkte ihr an, daß el Sitio eine besondere Bedeutung besaß für sie.

Ich wunderte mich über mich selbst, daß abermals ein tiefes Beben ausblieb in mir, Erhabenheit, Faszination wollten nicht aufsteigen, mich nicht überspülen mit Emotionen und Gedanken; ich nahm es hin. Sonne und Wolken wechselten einander ab, die Lichtsituation ständig verändernd und damit die Atmosphäre. Wie dicker werdender, aufgeschlagener Rahm kräuselte die Gischt sich in weitläufigen Bändern rund um die Uferfelsen herum, von denen manche zart rosa schimmerten. Milliarden von Bläschen zischten Brausepulver gleich auf, ehe die nächste Welle darüber hinwegschwappte. Seevögel mieden den Ort, ich vermißte ihr melancholisches Rufen.

Ein russischer Auswanderer, vielleicht Mitte zwanzig, die Augen stechend blau, erzählte mir, er lebe illegal in einem nahe gelegenen Wald und verdiene sein Geld, indem er Zelte an Low-Budget-Touristen vermiete; auch „fortune telling“ zähle zu seinen Einkünften, aber anders als „Senhora Teresa“ würde er niemanden verfluchen. Da es dämmerte und er mir recht suspekt, gar unheimlich war, trat ich den Rückzug an die Stufen hinab in den eigentlichen Ort mit seinen weiß getünchten Häusern, begleitet von Andy, einem deutschen Ferntrekker, der binnen sieben Monaten von Thüringen aus über Santiago de Compostela und Kap Finisterre nach Nazaré gewandert ist und weiter möchte nach Gibraltar bzw. Afrika. Wir speisten als einzige Gäste zu Bollywoodsound indisch, spazierten pappsüßes Eis naschend durch die Dunkelheit zum Hafen am Dorfende, ehe wir uns auf Nimmerwiedersehen verabschiedeten. Wie leicht mir das inzwischen fällt: Menschen begegnen, in Kontakt geraten und Gesprächen versinken, auseinandergehen, Hallo, Adieu, Ciao Ciao. Reisen, das heißt Aufbrechen in andere Gefilde, heißt ebenso: auf Leute stoßen, die einem im Daheimbleiben nie über den Weg gelaufen wären.

Das zierliche, gebannt das Meer in sich aufsaugende Mädchen, der dänische Radler, der meinen Aberglauben anfachende Russe: changierende Facetten el Sitios, nur Bruchteile davon, die den „Giant Waves Spot“ ausmachen unabhängig von den herbeigesehnten, monsterhaft aufgetürmten Wogen.

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