103, Teil I: Hungrig geworden

103, Teil I: Hungrig geworden

München, Februar 2011/ Nepal, März 2011.

Ich verließ den Flieger – auf der Brücke schlug mir eiskalte Münchner Februarluft entgegen. Das Licht war grau, trüb, absolut deprimierend, der perfekte Empfang für jemanden, der gar nicht hatte zurückkehren wollen, noch nicht jedenfalls. Ich hatte gerade eben den Orient geatmet, war gefangengenommen vom Sinnenspiel des Weihrauches, verwöhnt von prallstem Sonnenschein; es klingelten mir die Steine unter den Schritten weiterhin in den Ohren, ein Porzellanscherbenklimpern, meditativ wie Kuhglockengebimmel in den Alpen. Die nackten, leeren Felder draußen vor der Flughafenfront kontrastierten mit dem lebhaften Gewusel der Souqs meiner Erinnerung. Ich vermißte die rostroten und violetten Bergflanken, die Wärme, die anregende Fremdartigkeit der Arabischen Halbinsel. „Exit“ stand auf den Schildern, die einen vorbei an Luxustaschen führten, und „Baggage Claim“.

Umgehend wälzte ich daheim Kataloge. Ich war verrückt. Ich war gierig geworden, mein Hunger geweckt. Eineinhalb Jahre lang war ich wie gelähmt gewesen, ich weiß kaum mehr Vorkommnisse aus dieser Zeitspanne, es hatte sich nichts ereignet; ich war spazieren gewesen, hatte gelesen, irgendwie das erste Weihnachtsfest überstanden, die ersten Geburtstage (meiner, ihrer und jener der Eltern), das erste Ostern, das erste „Jubiläum“. Katastrophen waren keine geschehen; auch anderes nicht. Ein Ausharren, ein Überstehen, ein Aussitzen. Dann reichte es mir mit der Apathie, ich buchte Costa Rica, um an die Südamerikareise nach dem Studium anzuknüpfen, freute mich auf die Tour, die allerdings zu meiner großen Enttäuschung kurzfristig aufgrund mangelnder Teilnehmer abgesagt wurde. Ein Fernsehbericht kam mir in den Sinn (von 2004 bis 2009 schaute ich so ziemlich jede Arte- und 3sat- Dokumentation, die im Abendprogramm lief) über die Eselspfade im Oman, fand tatsächlich ein entsprechendes Trekkingangebot (damals, vor dem Kreuzfahrthype, war der Oman ein Geheimtipp gewesen). Wow, Oman! Welch Quell neuartiger Eindrücke, wie nährend und sinnvoll und schön… Der Alltag indes im deutschen Winter erwies sich als um so härtere Landung nach diesem seelischen Hoch… Darum raschelte sofort das Prospektpapier erneut zwischen meinen Fingern, mir herrliche Fotoimpressionen aus aller Welt aufzeigend. Ich blätterte, sondierte, wog ab. „Nepal für den kleinen Geldbeutel“, stand da neben im Wind flatternden Gebetsfahnen in Primärfarben. Die Tour startete in gerade einmal fünf Wochen. Kein Inlandsflug (wichtiges Kriterium aufgrund der Flugangst). Und Phillipp war fasziniert gewesen von Nepal (ein Kommilitone mit kupferblonden Haaren, der Raumfahrtingenieur wurde und leider nicht mein Freund).

 

Die schier ungeheure Größe machte den aus unseren Gärten vertrauten Rhododendron zu etwas faszinierend Fremden. Mit Staunen legten wir den Kopf in den Nacken, wanderten mit dem Blick die Stämme hinauf, von denen ein jeder von gänzlich verschiedenem Wuchs und eigener Form war, manche stramm und geradlinig, andere krumm gebückt, wieder welche verschlungen, wie gedrechselt; so also stromerte der Blick in die Höhe von acht, neun, zehn, ja bis hin zu 15 Metern, bis er an der Krone angelangte, wo eine Fülle an dunkelglänzendem Laub und magenta leuchtenden Blütenkugeln das Herz immer wieder zum Hüpfen brachte… Die Luft war fahl, feucht und frisch, die Bergkämme vor dem gespenstischen, undurchdringlichen Horizont verwischt vom schwer ruhenden Nebel, der wie sacht dampfender Atem bis zu uns hinunter durch den Urwald zog.

Die fette, ausgreifende Vegetation dünkte einem äußerst wunderlich: auf rötlichem, rissigen Rindenkleid wurden Moose getragen, Flechten, Farne, was pelzigen, verknoteten Tauen ähnelte, mir wie aus den Meeren verirrter Tang erschien, wie die Zöpfe von Waldgeistern, die Gestalten von Nymphen, eine ideale Wirkstätte für Kobolde und Trolle.

Es war recht still dort, als ich den Pfad entlangschritt, und die Rhododendren vermittelten einem das Gefühl, als tanzten sie oder als zöge ein eifriger Bühnentechniker nach und nach Kulissen beiseite, um dem Publikum – uns – neue Szenen zu bieten. Das Wort Rhythmus fiel gelegentlich unter meinen Begleitern, was mir verriet, dass auch sie den Eindruck einer Art komponierter Bewegung, einer Waldchoreographie hatten.

Gelegentlich kamen wir an einem blattlosen Magnolienbaum vorüber, dessen große, weiße Blüten ihn mit opulenten, gebauschten Schleifen schmückten, wie man sie etwa bei Fendi oder Chanel in den Blusen- bzw. Schalkollektionen antrifft. Es sprossen aus dem Boden sehr lange, grüne und mit braunem Muster versehene Aaronstabgewächse, helle Orchideen wanden sich schlangenartig aus der dichten Pflanzenkultur um uns herum; da ihre Wurzeln und Stiele meist verborgen blieben, hielt man sie für aufgespickt oder schwebend, Perlbroschen im Chloropyllsamt. Dann wieder hingen Zungenfarne in Reih und Glied von den Ästen herab, Teppichfransen gleich, Verzierungen an Brokatbaldachinen. Ich war gelinde gesagt entzückt, befand mich in meinem Element. Diesen lautlosen märchenhaften Bergwald irgendwo auf dem Weg zum Annapurna, wo stattliche Lemuren zu uns herabspähten und kleine Vögel metallblau aufblinkten, genoß ich mit jeder Faser meines Seins.

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